Berlinesi in Toscana

Was für ein unglaublich intensiver, lehrreicher, schöner und schmackhafter Aufenthalt! Besten Dank an die Camera penale di Siena (insb. Avvocato Beniamino Schiavoni aus Siena) und alle Mitwirkenden.

Anfang Dezember letzten Jahres waren toskanische StrafverteidigerInnen zur Fortbildung in Berlin (BAB 23/03) und hatten nunmehr von 26.04. bis 30.04.2023 in die Toskana eingeladen. Sieben Berliner AnwältInnen und ein Referendar folgten dieser Einladung. Das Ergebnis vorweg: siehe den zweiten Teil der Titelzeile.

Thomas Röth | Rechtsanwalt | Fachanwalt für Arbeitsrecht, Miet- und Wohnungseigentumsrecht sowie Strafrecht, Mediator, Richter am Anwaltsgericht Berlin, Avvocato in Italien (Anwaltskammer zu Siena, Toskana), Master of Science Studiengang Forensic Sciences and Engineering | Rechtsanwaltssozietät Liebert & Röth | Philipp Langhaeuser | Referendar

Der zentrale Ort, von dem aus alles unternommen wurde, war Siena. Dort wurden wir am Mittwoch, 26.04.2023, um 18:00 Uhr in einer Rechtsanwaltskanzlei mit sehr schönem Besprechungssaal (große Deckenfresken) empfangen und in die Grundlagen des italienischen Straf- und Strafverfahrensrechts über zwei Stunden von zwei Anwälten aus Siena eingeführt. Es wurde in der Regel italienisch gesprochen. Aus der Berliner Gruppe waren drei dabei, die des Italienischen mächtig waren und übersetzen konnten.
Nach einem gemeinsamen Abendessen ging es dann am nächsten Tag mit dem Chef der Staatsanwaltschaft in Siena im dortigen Gerichts- und zugleich StA-Gebäude weiter. Er erklärte uns, wie die dortige Prokura (= StA) arbeitet und funktioniert, und stellte uns auch die dieser Staatsanwaltschaft unterstellten ErmittlungsbeamtInnen vor. Direkt im Anschluss wurden wir von einem geschichtskundigen Führer innerhalb der Stadtmauern Sienas über Wiesen und zu ehemaligen Brunnen geführt und über die Rechtsgeschichte Sienas aufgeklärt. Die exklusive Führung endete wenige hundert Meter hinter dem Palazzo Pubblico am Campo in einer grünen Wiese beim Mittagessen. Am Nachmittag gab es eine Veranstaltung – von verschiedenen Vereinen organisiert, die kurz zuvor das Gefängnis in Siena besucht hatten und auf Toskana- Gefängnis-Kontrolltour waren – zum Thema Strafvollzug im deutsch-italienischen Vergleich, zu dem die Kollegen Person und Röth beitrugen. Am Spätnachmittag besuchten wir eines der Stadtviertelmuseen (contrada istrice). Die 17 Contrade der Stadt bestreiten den Palio (das berühmte Pferderennen Sienas), haben eine sehr lange Geschichte und spielen nach wie vor eine wichtige u.a. soziale Rolle in Siena. Der Tag endete mit einem köstlichen Abendessen.

„Die Rechtsanwaltskammern können in Italien – bis auf die Betriebskosten – im Gericht kostenlos Räume beziehen“

Am nächsten Tag ging es dann nach Florenz, dort in den Justizpalast (2013 eingeweiht). Zunächst durften wir mit dem Präsidenten des Berufungsgerichts sprechen, der uns über die Struktur und das Funktionieren des Gerichtsgebäudes sowie der verschiedenen, im Gebäude sich befindenden Gerichte und die konkreten Probleme einführte. Auch die Ernennung von RichterInnen und der Umgang und die Dauer von Verfahren waren Gesprächsthema. Anschließend empfing uns im selben Gebäude der Präsident der Florentiner Rechtsanwaltskammer. Die Rechtsanwaltskammern können in Italien – bis auf die Betriebskosten – im Gericht kostenlos Räume beziehen. Wir konnten über Zulassungszahlen, Probleme der Anwaltschaft in Italien sowie Unterschiede im Berufsrecht sprechen.

Zuletzt sahen wir uns eine halbe Stunde einen Strafprozess vor dem Einzelrichter live an. Es ging dabei unter anderem um fahrlässige Tötung und ein Zeuge wurde vernommen. Nach der Mittagspause mit florentinischen Spezialitäten auf dem Markt in Sant‘ Ambrogio führte uns ein florentinischer Kollege, der darüber auch ein Buch geschrieben hat, durch das Altstadtzentrum von Florenz (rund um den Palazzo Vecchio) und erklärte uns an schaulich und mit Bildern, die er verteilte, wie die Strafjustiz vom 12. bis ins 17. Jahrhundert in Florenz funktioniert hat. Er konnte dies auch an vielen noch sichtbaren Beispielen im Stadtbild illustrieren. So zum Beispiel an einem Stadtpalast, der Sitz des mittelalterlichen Polizeihauptmanns, des „Bargello“, war. Dort fanden viele Strafprozesse statt. Auch auf viele kleine Details im Stadtbild wurden wir aufmerksam gemacht, wie an Hausmauern angebrachte Warnschilder aus der Renaissance, die bei Fußballspiel und Lärm harte Strafen „pene rigorose“ androhten. Danach fuhren wir nach Siena zurück, machten aber vorher im Dorf Monteriggioni, einem mittelalterlichen Festungsdorf, einen Rundgang und nahmen dort ein köstliches Abendessen zu uns.
Am Samstag, 29.04.2023, ging es dann um 05:00 Uhr morgens mit dem Auto nach Livorno und von dort auf die einzige noch in Italien seit über 100 Jahren existierende Gefängnisinsel, La Gorgona. Dort hatten wir eine zweistündige Führung durch das Gefängnis mit den JVA-Beamten und Insassen und sprachen über den Strafvollzug und das Leben auf der Insel. Die etwa 70 ausschließlich männlichen Insassen verbüßen meist eine Haftstrafe von fünf bis acht Jahren. Sie leben dort in einer Art halboffenen Vollzug und gehen tagsüber landwirtschaftlicher Arbeit nach. So gibt es auf der Insel Olivenhaine, einen Weinberg und Schafe. Mittags wurden wir von den Insassen, die unter Anleitung einer Köchin arbeiteten, bewirtet. Am Sonntag ging es dann erst mittags nach Montepulciano und wir wurden dort von einer Kollegin und Mitarbeiterin der Stadt Montepulciano über die Geschichte Montepulcianos informiert, durften im Anschluss Wein verköstigen und fuhren schlussendlich in die Thermen von Chianciano mit einigen KollegInnen aus der Toskana.
Damit fand dann dieser wunderbare Aufenthalt leider sein Ende. Zwei von uns, die länger blieben, konnten eine Kollegin am Montag zur Vorführung eines am Samstag vorläufig Festgenommenen begleiten. Insgesamt war bei allen eine unglaubliche Empathie, Freude und Offenheit über das eigene Berufsleben und das Justizsystem in Italien zu erzählen, spürbar. Die Schönheit der Landschaft und die Qualität des Essens muss nicht extra hervorgehoben werden. Die Diskussionen gingen doch so tief, dass man ähnliches/völlig verschiedenes feststellen und auch Ursachen eruieren konnte. Dazu schlusskadenzend stichwortartig:

„Insgesamt war bei allen eine unglaubliche Empathie, Freude und Offenheit über das eigene Berufsleben und das Justizsystem in Italien zu erzählen, spürbar“

In Italien bekommt jede(r) Beschuldigte eine Verteidigung (Wahl oder Pflicht). Pflichtverteidigung bedeutet jedoch nicht, dass man vom Staat bezahlt wird. Dazu muss man extra einen Antrag stellen. Sollte man weniger als 11.700,00 € pro Jahr verdienen, wird die Verteidigung vom Staat, wenn beantragt, bezahlt.
In Italien werden nur 10 % der Ermittlungsverfahren eingestellt. Die Freispruchquote liegt dafür bei 50 %. Allerdings bedeutet ein Freispruch nicht, dass der Staat die Kosten trägt, sondern auch bei Freispruch muss der oder die Freigesprochene die Verteidigung in der Regel selbst bezahlen.
Es gibt in Italien für „Mafiosi und Terroristen“ eigene Vollzugsregeln. Trotz Feststellung des EGMR, dass diese konventionswidrig seien, ist bisher noch keine Änderung ersichtlich. Das Strafvollzugssystem leidet unter völliger Überfüllung der Gefängnisse. Es gibt gut 190 Gefängnisse mit einer Kapazität für 51.400 Personen. Gute 56.000 müssen derzeit Platz finden. Allein 2022 gab es in italienischen Gefängnisses 84 Suizide.
Italien hat 8000 Richter- und StaatsanwältInnen, 240.000 RechtsanwältInnen und muss justiziell, wenn auch mit langer Dauer, um Gerichtsfälle erledigen zu können, sich weiterer HonorarrichterInnen (in der Regel aus der Anwaltschaft) bedienen, das sind derzeit 12.000. Die ErmittlungsbeamtInnen werden über einen Wettbewerb ermittelt, bleiben weiter dem Verteidigungsministerium (Carabinieri) oder dem Innenministerium (Polizei) unterstellt, sind aber ausschließlich der Staatsanwaltschaft untergeordnet und haben ihre Arbeitsplätze auch in der Regel im selben Gebäude wie diese. Ein fester Schlüssel (ErmittlungsbeamtInnen – StaatsanwältInnen) ist vorgeschrieben. Italien hat Ende der 80er-Jahre sein Strafprozesssystem vom puren kontinentalen System etwas auf das anglo-amerikanische hin geändert.

„Wenn eine Entscheidung über die Eröffnung gefällt wurde, bekommt der/die dann später entscheidende RichterIn bzw. das Gericht keine Ermittlungsakte zu sehen“

Neben vielen detaillierten konkreten Vorschriften unter anderem zu ca. fünf bis sechs weiteren milderen Mitteln als der Untersuchungshaft ist es so, dass zwischen ErmittlungsrichterInnen und HauptverhandlungsrichterInnen streng unterschieden wird, und zum Beispiel beim Strafbefehl bzw. im Zwischenverfahren immer ein(e) andere(r) RichterIn als der/die später Hauptverhandelnde über die Eröffnung des Verfahrens entscheidet. Wenn eine Entscheidung über die Eröffnung gefällt wurde, bekommt der/die dann später entscheidende RichterIn bzw. das Gericht keine Ermittlungsakte zu sehen, sondern lediglich von dem/der RichterIn im Zwischenverfahren ein Blatt mit dem konkreten Anklagesatz und etwaigen Vorstrafen des/der Beschuldigten. Die Ermittlungsakte bekommen sie nicht zu Gesicht. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die Beweismittel zu benennen und zu befragen (Kreuzverhör), und das Gericht schöpft ausschließlich daraus das Material für die Verurteilung. Weiterhin gibt es meist eine Voranhörung durch eine(n) zusätzliche(n) RichterIn, in der über die Zulassung geeigneter Beweise für die spätere Hauptverhandlung entschieden wird. Bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens sind deshalb oft vier verschiedene RichterInnen beteiligt.
Berufsrechtlich wurde uns mitgeteilt, dass Beschwerden nicht von den Vorständen der Anwaltskammer bearbeitet werden, sondern es dafür seit 2014 eine eigene Abteilung innerhalb der Rechtsanwaltskammern gibt, die sich nur hiermit beschäftigen. Wer Vorstand einer RAK wird, darf kein von RichterInnen zu verleihendes Amt übernehmen, wie Insolvenzverwaltung, Betreuung und dergleichen. Disziplinarrechtlich kommen also Fälle zunächst vor diese eigens gegründete Abteilung und können dann bis zur Italienischen BRAK (CNF) als Rechtsmittelinstanz gehen. Eine staatliche gerichtliche Institution ist nicht vorgesehen. SyndikusanwältInnen kennt die italienische Anwaltsrechtsordnung nicht. Sie sind auch keine Mitglieder bei der RAK. Konkurrentenklagen der RichterInnen z.B. auf Besetzung einer PräsidentInnenstelle haben in Italien keinen Suspensiveffekt. Unsere Erkenntnisse stehen jedoch unter dem Vorbehalt der grundlegenden Justizreform „Cartabia“, deren Umsetzung in Italien gerade beginnt.
Alles in allem ein unglaublich gewinnbringender Blick über den eigenen strafjustiziellen Tellerrand. Der Austausch zwischen Anwaltschaften sollte fortgeführt und auch auf andere Länder erweitert werden.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 06/2023 | 72. Jahrgang