Das Grundgesetz
Noch immer eine Erfolgsgeschichte?
Beim Berliner Anwaltsessen 2023, hielt Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Dieter Grimm, LL.M. (Harvard), langjähriger Professor für Öffentliches Recht (zuletzt an der Humboldt-Universität zu Berlin), Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D., Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin a.D. und Gastprofessor an der Yale Law School, New Haven, CT. (2002–2017), die Dinner Speech unter dem Titel „Das Grundgesetz – immer noch eine Erfolgsgeschichte?“. Das Grundgesetz wird 75 Jahre. Es ist nicht nur die deutsche Verfassung mit der längsten Geltungsdauer, es ist auch die Verfassung mit der höchsten Relevanz für politisches Verhalten und die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Erste kann man dem Grundgesetz nicht nehmen, das Zweite ist nicht gesichert. Daraus erklärt sich die Frage, ob es auch weiterhin eine Erfolgsgeschichte bleiben wird.

Seinen Triumph erlebte der demokratische Verfassungsstaat im Wendejahr 1989/90. In allen Teilen der Welt befreiten sich Länder von diktatorischen oder rassistischen Regimen und nahmen demokratische Verfassungen an. In den meisten dieser Länder wurde die Verfassungsgebung oder -erneuerung zudem mit der Einrichtung von Verfassungsgerichten verbunden. Der Triumph war nicht von Dauer. Heute treffen wir allenthalben auf gefährdete oder gescheiterte Verfassungen, ausgeschaltete oder gleichgeschaltete Verfassungsgerichte.
In dem veränderten Umfeld steht Deutschland immer noch gut da, wenn auch nicht so gut wie beim 40-jährigen Jubiläum im Mai 1989. Da befand sich das Grundgesetz auf dem Höhepunkt der Wertschätzung, wie die ganz ungewöhnliche Wortverbindung „Verfassungspatriotismus“ zeigt. In der Bezeichnung drückte sich aus, dass das Grundgesetz nicht nur rechtlich wirksam war, sondern auch symbolische Kraft erworben hatte.
Inzwischen, fast 35 Jahre später, ist die grundgesetzliche Ordnung einerseits in Ostdeutschland weniger tief verwurzelt als im Westen, andererseits aber auch in der Bundesrepublik nicht mehr so unangefochten akzeptiert wie noch 1989. Schließlich erzielt eine Partei beachtliche Umfragewerte und Wahlergebnisse, die andere Vorstellungen von staatlicher Ordnung hat als die, welche dem Grundgesetz zugrunde liegen.
Deswegen möchte ich einen Blick zurück auf die Verfassungsfrage zur Zeit der Wiedervereinigung und ihre Bedeutung für die Akzeptanz der politischen Ordnung werfen und andererseits einen Blick nach vorn tun und fragen, ob das Grundgesetz hinreichend gegen Versuche der Systemtransformation gewappnet ist, wie man sie in anderen Ländern, selbst in Mitgliedstaaten der EU, beobachten kann.
Beim 40-jährigen Jubiläum, als das Grundgesetz auf dem Höhepunkt der Wertschätzung angelangt war, konnte man nicht ahnen, dass ein halbes Jahr später der historische Moment eintreten sollte, für den das Grundgesetz selber sein Ende in Aussicht gestellt hatte. In der Schlussbestimmung des Art. 146 GG hieß es, das Grundgesetz werde einer neuen Verfassung Platz machen, die vom ganzen deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Die Verheißung war aber umkämpft. Viele, die das bewährte Grundgesetz nicht zur Disposition stellen wollten oder mit der Wiedervereinigung nicht die Vorstellung eines gemeinsamen Neuanfangs verbanden, waren dafür, die Wiedervereinigung auf der Grundlage von Art. 23 GG herbeizuführen. Dort hieß es, das Grundgesetz gelte „zunächst“ im Gebiet der damaligen Bundesrepublik. „In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Die Aufnahme des Saarlands in die Bundesrepublik im Jahr 1957 war nach dieser Vorschrift erfolgt.
In Deutschland entfaltete sich in der kurzen Spanne zwischen dem Mauerfall am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 keine Grundsatzdiskussion, wie man sich Deutschland als wiedererstandenen Nationalstaat denken und wie man die Wiedervereinigung verstehen wollte, als räumliche Ausdehnung der alten Bundesrepublik oder als gemeinsamen Neubeginn auf einer neuen Rechtsgrundlage. Wohl aber gab es zwei Stellvertreterdiskussionen. Die eine betraf die Frage der Hauptstadt: Bonn oder Berlin, die andere die Frage der Rechtsgrundlage: Grundgesetz oder Neukonstitution, also Art. 23 oder Art. 146 GG.
Das war die Alternative, und so gestellt war sie auch einsichtig, denn Art. 23 GG erlaubte die schnelle Wiedervereinigung, und Schnelligkeit war in dieser Situation essenziell, denn die Haltung der Westalliierten und die Situation der Sowjetunion ließen es fraglich erscheinen, ob die Chance zur Wiedervereinigung erhalten bleiben würde, bis der zeitraubende Prozess einer Neukonstitution abgeschlossen war. Der Weg nach Art. 23 GG drängte sich also auf. Die Befürworter des anderen Weges wurden damit zufriedengestellt, dass Art. 146 GG mit leichter Modifikation erhalten blieb.
Aber standen Art. 23 und 146 GG wirklich in einem Ausschließungsverhältnis? Es wäre ja ohne Weiteres möglich gewesen, beide Wege zu kombinieren: schneller Beitritt gemäß Art. 23, nach erfolgtem Beitritt Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung und Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung gemäß Art. 146. Das wurde damals nur von wenigen gesehen, und viele wollten es auch nicht hören, weil sie keinen Grund sahen, im Westen etwas zu ändern, er hatte ja den Systemwettbewerb gewonnen.
„Es wäre ja ohne Weiteres möglich gewesen, beide Wege zu kombinieren: schneller Beitritt gemäß Art. 23, nach erfolgtem Beitritt Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung und Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung gemäß Art. 146“
Die Frage ist entschieden. Heute interessiert sie nur noch unter dem Gesichtspunkt, ob damit eine Integrationschance vertan wurde, was sich jetzt, eine Generation später, rächt. Die Integration der beiden Hälften scheint heute weiter entfernt als damals und lässt sich mit der Verfassungsfrage verbinden. Die Neukonstitution hätte der ostdeutschen Bevölkerung das Gefühl vermitteln können, dass sie nicht vom Westen übernommen wurde, sondern ihre Vorstellungen und Erfahrungen in einer Verfassungsdebatte zur Geltung bringen konnte.
Ich selbst fand damals, dass die Chance wahrgenommen werden sollte. Ich hatte keine Sorge, dass dabei etwas völlig anderes als das Grundgesetz herausgekommen wäre. Die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung wollte ja in einer Ordnung nach Art des Grundgesetzes leben. Aber die Verfassungsdiskussion, die in der DDR sogleich nach dem Mauerfall begann, als noch nicht mit einer baldigen Wiedervereinigung zu rechnen war, zeigte auch, dass es durchaus ostdeutsche Desiderate gab, die zumindest einer Diskussion beim Zusammenschluss bedurft hätten.
Ob die Integration besser geglückt wäre, wenn man die Chance ergriffen hätte, kann heute niemand sagen, unmöglich ist es nicht. Wenn heute angesichts des zugespitzten Ost-West-Gegensatzes gelegentlich erwogen wird, von Art. 146 GG Gebrauch zu machen, verspreche ich mir davon allerdings nichts. Der Zeitpunkt, zu dem dies plausibel gewesen wäre, ist verpasst. Eine Verfassung ohne „constitutional moment“ hat kaum je integrative Kraft entfaltet. Die zweite Frage ist zukunftsgerichtet. Was können Verfassungen gegen Versuche ihrer Denaturierung ausrichten? Hier empfiehlt es sich, zwei Stadien zu unterscheiden. In dem ersten geht es um die Vorbeugung gegen eine Machtübernahme populistischer Parteien. In dem zweiten geht es um die Resistenz der Verfassung nach einer Machtübernahme. Die erste Frage ist nicht neu. Sie spielte eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des Grundgesetzes nach der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus. Das Grundgesetz enthält mehrere Vorkehrungen, die in der Möglichkeit des Parteiverbots gipfeln.
„Was können Verfassungen gegen Versuche ihrer Denaturierung ausrichten“
Aber wie effektiv ist diese Option? Solange Parteien, die eine Systemtransformation anstreben, klein sind, dürfen sie nicht verboten werden, denn seit dem zweiten NPDUrteil des Bundesverfassungsgerichts von 2017 findet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anwendung. Sind sie groß geworden, fragt sich, ob es politisch noch möglich und klug ist, sie zu verbieten. Entscheiden sich 20 Prozent der Wähler für eine populistische Partei, ist es problematisch, einen so großen Bevölkerungsanteil vom demokratischen Prozess auszuschließen.
Wichtiger scheint es mir, sich ums Wahlrecht zu kümmern. Die Bedeutung des Wahlrechts für den Erfolg popu listischer Parteien kann man an den Beispielen Ungarns 2010 und Polens 2015 ablesen. In Polen erlangte die PiS-Partei für 36 Prozent der Wählerstimmen eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze, in Ungarn reichten der Fidesz-Partei 53 Prozent der Wählerstimmen für zwei Drittel der Mandate. Beide Parteien verdanken die Möglichkeit zur Systemveränderung also nicht zuletzt dem Wahlrecht.
„Die Grundsätze des Wahlsystems sollten in das Grundgesetz aufgenommen werden“
In der Bundesrepublik sind die Wahlrechtsgrundsätze in der Verfassung verankert, das Wahlsystem hingegen nicht. Insbesondere schweigt das Grundgesetz zur Umrechnung von Stimmen in Mandate. Das sind genuin verfassungsrechtliche Materien, die in der Bundesrepublik jedoch auf gesetzlicher Ebene geregelt sind und deswegen auch mit einfacher Mehrheit geändert werden können. Die Grundsätze des Wahlsystems sollten daher in das Grundgesetz aufgenommen werden.
Ähnlich verhält es sich mit der Wahl der Verfassungsrichter. Nicht nur Ungarn und Polen zeigen, dass die Systemveränderung mit der Gleichschaltung der Verfassungsgerichte begann. Die Bundesrepublik hat gute Erfahrungen mit ihrer Regelung der Verfassungsrichter- Wahlen gemacht. Das Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, die je die Hälfte der Verfassungsrichter wählen, hat bisher extreme Parteigänger verhindert. Aber auch diese Regelung steht nur im Bundesverfassungsgerichtsgesetz, nicht im Grundgesetz.
Die zweite Frage lautet, was die Verfassung ausrichten kann, nachdem populistische Parteien an die Regierung gelangt sind. Auch hier hilft ein Blick auf Ungarn und Polen, diesmal in ihrer Unterschiedlichkeit. Die ungarische Fidesz-Partei konnte mit ihrer Zweidrittelmehrheit die Regimetransformation legal durchführen. Unter solchen Umständen hilft keine Verfassung mehr, selbst dann nicht, wenn sie eine Ewigkeitsklausel enthält, denn auch diese gilt nur, solange die Verfassung gilt, welche sie enthält.
So ist es in der Tat gekommen. Mit ihrer verfassungsändernden Mehrheit setzte die Fidesz-Partei eine neue Verfassung in Kraft, die ganz der Parteilinie entspricht; das Verfassungsgericht wurde gleichgeschaltet. Zudem gibt es eine neue Kategorie von Gesetzen, die nur mit Zweidrittelmehrheit änderbar sind. Die Behinderung der freien Meinungsbildung flankiert diese Maßnahmen. Sollte die Opposition je eine Wahl gewinnen, aber nicht zwei Drittel der Sitze erreichen, wäre sie gefesselt.
In Polen errang die PiS-Partei keine verfassungsändernde Mehrheit. Die Verfassung blieb also unverändert in Kraft. Dadurch waren die legalen Möglichkeiten der Partei zur Systemveränderung begrenzt. Die PiS konnte ihr Ziel in mehreren Fällen nur vermittels offenkundigen Verfassungsbruchs erreichen. In einer solchen Lage ist entscheidend, ob die Bevölkerung den Verfassungsbruch hinnimmt oder dagegen aufbegehrt. In Polen wurde die PiS-Mehrheit in der ersten Wahl nach der Machtübernahme bestätigt, in der zweiten nicht.
Damit sind wir aber schon bei den jenseits der rechtlichen Wirkung von Verfassungen gelegenen Faktoren, den außerrechtlichen Gelingensvoraussetzungen von Verfassungsstaatlichkeit, also der Verfassungskultur, der rechtsstaatlichen Gesinnung, der emotionalen Bindung an eine Verfassung. Sie können durch Verfassungsrecht und Verfassungsrechtsprechung beeinflusst, aber nicht erzeugt oder bewahrt werden.
In Deutschland sind die außerrechtlichen Voraussetzungen für Verfassungsstaatlichkeit relativ stabil. Das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht ist ungeschmälert. Die Befolgungsbereitschaft der Politik für verfassungsgerichtliche Urteile ist so hoch wie in wenigen Staaten. Dass es in einem Umfeld, in dem Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit immer stärker unter Druck geraten, so bleibt, ist nicht garantiert. Man muss dafür arbeiten.