Rechtsanwaltschaft als Beruf des öffentlichen Vertrauens

Ein einzigartiger Beruf

Der Beruf des Rechtsanwalts ist ein einzigartiger Beruf. Wir verteidigen nicht nur die Rechte und Freiheiten unserer Mandanten, sondern auch zeitlose Werte wie beispielsweise Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Unabhängig davon, ob wir in Deutschland, Polen oder einem anderen Land tätig sind, sind wir Hüter des Schutzes dieser Rechte.

Im Rahmen unserer deutsch-polnischen Zusammenarbeit freuen wir uns, dass ein so wichtiges Thema im Berliner Anwaltsblatt veröffentlicht wird. Der Text wurde aus polnischer Perspektive verfasst und wir würden uns freuen, die Perspektive unserer deutschen Kolleginnen und Kollegen kennenzulernen.

Małgorzata Gemen | polnische Rechtsanwältin und Gründerin der Anwaltskanzlei Adwokat Małgorzata Gemen mit dem Sitz in Stettin, | Polen | www.kanzlei-gemen.de

Piotr Dobrołowicz | polnischer Rechtsanwalt | Dekan der Stettiner Anwaltskammer und Gründungspartner der Kanzlei Dobrołowicz Weissgerber Łowkiet Adwokaci Sp. p. mit dem Sitz in Stettin | Polen | www.anwalt-polen24.de

RECHTSANWALTSCHAFT – EINE BERUFUNG

Laut Art. 1 des polnischen Rechtsanwaltsgesetzes „ist die Rechtsanwaltschaft zur Leistung von Rechtshilfe, zur Mitwirkung beim Schutz der bürgerlichen Rechte und Freiheiten sowie bei der Gestaltung und Anwendung des Rechts berufen”.

Es handelt sich dabei um eine besondere Bestimmung, denn der polnische Gesetzgeber hat darin klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die polnische Rechtsanwaltschaft nicht nur dazu gegründet wurde, um sich mit typischen Rechtsfällen zu befassen, die von Mandanten in Auftrag gegeben werden, sondern auch, um am Schutz der bürgerlichen Rechte und Freiheiten mitzuwirken. Diese gesetzliche Erweiterung der Aufgaben der Rechtsanwaltschaft, die über den typischen Rahmen von Gerichtsverfahren oder Rechtshilfe für die Öffentlichkeit hinausgeht, ist eines der Elemente, die die Tatsache bestimmen, dass der Beruf des Rechtsanwalts ein Beruf des öffentlichen Vertrauens ist und die Person, die ihn ausübt, nicht nur für die erbrachten Dienstleistungen, sondern auch für die soziale und rechtliche Ordnung, in der sie tätig ist, Verantwortung übernimmt. Die Ausübung dieses Berufs ist ein wesentliches Element des Mechanismus des individuellen Rechtsschutzes, aber auch des Systems zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung. Deshalb hat dieser Beruf Aufgaben auf der Mikroebene, die im Wesentlichen vom Rechtsanwalt in der Kanzlei gegenüber seinen Mandanten erfüllt werden, aber auch Aufgaben auf der Makroebene durch die Tätigkeit in der obligatorischen beruflichen Selbstverwaltung der Rechtsanwälte, der in Polen über 20 Tsd. Personen angehören und die darauf abzielt, die ordnungsgemäße Ausübung des Berufs in der umgebenden rechtlichen und sozialen Realität zu gewährleisten.

„Laut Art. 1 des polnischen Rechtsanwaltsgesetzes ,ist die Rechtsanwaltschaft zur Leistung von Rechtshilfe, zur Mitwirkung beim Schutz der bürgerlichen Rechte und Freiheiten sowie bei der Gestaltung und Anwendung des Rechts berufen“

Der zweite Aspekt ist heute in Polen besonders sichtbar, da wir Zeugen einer systematischen Untergrabung der Fundamente eines Rechtsstaates und der ihn begründenden Verfassungsordnung sind, die seit acht Jahren andauert. Die Rolle der polnischen Rechtsanwaltschaft wird in einem solchen Fall bedeutsam, denn sie kann und sollte an die rechtlichen Unwägbarkeiten eines demokratischen Rechtsstaates erinnern und gleichzeitig deren Verletzung anprangern.

ROLLE DER RECHTSANWALTSCHAFT

Die Stimme der polnischen Rechtsanwaltschaft ist ohne Zweifel deutlich zu hören. Die Gesamtpolnische Rechtsanwaltschaft hat eine Reihe von Beschlüssen gefasst, in denen sie daran erinnert, dass die Respektierung der Verfassung der Republik Polen die Pflicht der Behörden und der Bürger ist.

„Die Gesamtpolnische Rechtsanwaltskammer appelliert an alle Behörden der Republik Polen, bei der Ausarbeitung von normativen Rechtsakten umsichtig und besonders sorgfältig vorzugehen und vor allem davon abzusehen, Entwürfe vorzulegen, die den Grundsatz der Dreiteilung und des Gleichgewichts der Staatsgewalten, den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz und den Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter des Verfassungsgerichts und deren alleinige Unterordnung unter die Verfassung sowie den Grundsatz des demokratischen Rechtsstaates in Frage stellen könnten. Denn diese verfassungsrechtlichen und universellen Garantien werden im Interesse der Bürger und der Nation geschaffen und bilden die Grundlage für den Schutz der individuellen Rechte und Freiheiten in einem demokratischen Rechtsstaat.” – So reagierte die Gesamtpolnische Rechtsanwaltskammer in ihrem Beschluss vom 15. Januar 2016 auf die ersten besorgniserregenden Anzeichen für Verstöße gegen die verfassungsmäßige Rechtsordnung.

Die Unabhängigkeit des Gerichtswesens ist ein grundlegender Pfeiler eines demokratischen Rechtsstaates. Ohne diese Eigenschaft kann sich das Justizsystem schnell in eine Scheininstanz, in ein konzeptionelles Vakuum verwandeln. In diesem Zusammenhang ist auch die Unabhängigkeit der Rechtsanwaltschaft sehr wichtig, denn ohne diese Eigenschaft der Unabhängigkeit wäre sie nicht in der Lage, ihre Rolle als Geburtshelferin gerechter Urteile zu erfüllen.

Es ist offensichtlich, dass die Rechtsanwälte ein absolutes Interesse daran haben, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie aufrechtzuerhalten und die verfassungsmäßigen Werte zu respektieren. Nur durch ihr tatsächliches (und nicht nur auf dem Papier stehendes) Verhalten ist es möglich, einen Beruf des öffentlichen Vertrauens in vollem Umfang und in Würde auszuüben. Beispielsweise kann ein Rechtsanwalt in einem politisierten Gericht, das Urteile auf der Grundlage von Parteierwartungen fällt, auf seine Rechtskenntnisse, seine Fähigkeit zur Rechtsauslegung oder seine Lebenserfahrung nicht zählen, um dem Urteilsprozess etwas hinzuzufügen. Ganz im Gegenteil, seine Anwesenheit im Gerichtssaal wird eher einen dekorativen Charakter haben.

Die Parlamentswahlen haben in Polen am 15. Oktober 2023 stattgefunden. Die Rechtsanwaltschaft hat sich stark dafür eingesetzt, dass die Öffentlichkeit ihre Vertreter für den Sejm und den Senat möglichst umfassend und bewusst wählt. In mehreren Beschlüssen hat die Rechtsanwaltschaft alle Bürgerinnen und Bürger nachdrücklich aufgefordert, sich aktiv an den Wahlen zu beteiligen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und diejenigen Kandidaten zu wählen, die die Verfassungswerte, die europäischen Werte sowie die persönlichen Rechte und Freiheiten respektieren und achten. Die Wahlbeteiligung betrug 74,38% und das Ergebnis erfüllt alle mit Hoffnung auf einen positiven Wandel in Polen.

Selbstverständlich können sich Anwälte nicht nur mit Beschlüssen selbst an wichtige Verfassungswerte erinnern. Als Beruf des öffentlichen Vertrauens müssen sie in die Gesellschaft hinausgehen, außerhalb des Gerichtssaals, um diese Werte und die Rechtskultur zu fördern.

Und dies geschieht auch. Ein Beispiel für eine solche Aktivität ist die Initiative Tour de KonstytucjaPL in Polen. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Treffen unter anderem von Rechtsanwälten mit den Einwohnern verschiedener Ortschaften, deren Ziel es ist, den Bürgern die Bedeutung der polnischen Verfassung und die darin angenommenen Lösungen näherzubringen, die manchmal begrifflich zu allgemein und von ihren Alltagsproblemen weit entfernt erscheinen mögen, die aber immerhin ein Anker für detaillierte Lösungen sind, die sie bereits direkt betreffen. Dies muss so einfach wie möglich erklärt werden. Bei diesen Treffen können die Bürger daher über die ihnen zustehenden Rechte und deren Auswirkungen auf ihre Alltagssituationen sprechen, sie können an einer Simulation einer Gerichtsverhandlung teilnehmen und erfahren, wo sie Rechtshilfe erhalten können.

Auch auf internationaler Ebene unternimmt die polnische Rechtsanwaltschaft viele wichtige Aktionen. Beispielsweise hat sie nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom ersten Tag des Krieges an eine langfristige Initiative gestartet, um Flüchtlingen, die vor dem bewaffneten Konflikt fliehen, rechtliche und materielle Unterstützung zu gewähren. Es ist auch wichtig, in internationalen Foren die richtige Haltung zu vertreten. So beschloss zum Beispiel der CCBE, die internationale Organisation der europäischen Rechtsanwälte, im Februar 2023, die russische Rechtsanwaltschaft als Beobachter des CCBE auszuschließen.

Die Demokratie braucht mutige öffentliche Vertrauensberufe, und sei es nur dazu da, um diese Last der Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten und der Unterstützung demokratischer Mechanismen im öffentlichen Raum zu tragen

In diesem Zusammenhang sind auch Initiativen auf lokaler Ebene zu verzeichnen. So sind sich beispielsweise die Mitglieder der zwölf lokalen Selbstverwaltungen von Stettin, die in der Vereinigung von Berufen des öffentlichen Vertrauens tätig sind, wie Ärzte, Krankenschwestern, Notare, Gerichtsvollzieher, Architekten und Rechtsanwälte, zweifellos der Bedeutung der aktuellen politischen Veränderungen und der getroffenen Entscheidungen bewusst. Alle Vertreter dieser Berufe sind an einer echten selbstverwalteten, das heißt auch unabhängigen Zukunft interessiert. Gemeinsam sind wir der Meinung, dass die Demokratie mutige öffentliche Vertrauensberufe braucht, und sei es nur dazu da, um diese Last der Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten und der Unterstützung demokratischer Mechanismen im öffentlichen Raum zu tragen. Das Bedürfnis, über wichtige Themen zu sprechen und sich gegenseitig zu unterstützen, führte zur Organisation einer Konferenz am 14. September 2023 in Stettin unter dem Titel „Starke Berufe des öffentlichen Vertrauens. Warum braucht die Demokratie sie?”.

FAZIT

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die von der Rechtsanwaltschaft und ihren Vertretern ergriffenen Maßnahmen sichtbar sind und dass es viele von ihnen gibt, aber sie allein werden nicht dazu führen, dass die demokratische Rechtsordnung und die Rechtsstaatlichkeit sicher und ihre Zukunft unbedroht sind. Dies bedeutet nicht, dass die Pflicht, für den Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger einzutreten, vergessen oder auf andere abgewälzt werden kann. Die Rechtsanwaltschaft, die seit jeher auf eine reale Garantie ihrer Meinungsfreiheit und ihrer Beteiligung an gerechten und gesetzestreuen Gerichtsverfahren angewiesen ist, muss aktiv und kontinuierlich danach streben, diese Ziele zu erreichen, die ihr der Gesetzgeber in dem zu Beginn zitierten Art. 1 des Gesetzes über die Anwaltschaft gesetzt hat.

Heft 12 | 2023 | 72. Jahrgang