Rechtsprechung des Kammergerichts zum Verkehrsrecht

Richter- und Anwaltschaft im Dialog

Am 6. Oktober 2023 lud der Berliner Anwaltsverein im Rahmen seiner Veranstaltungsreihe „Richter und Anwaltschaft im Dialog“ wieder zur Präsenz-Fortbildung ein und durfte etwa 50 Teilnehmer begrüßen, unter ihnen auch zahlreiche Richterinnen und Richter des Amtsgerichts Mitte. Als Referent konnte der VorsRiKG Dr. Peter- Hendrik Müther, Vorsitzender Richter des 22. Senats des Kammergerichts, gewonnen werden. Anhand einer Vielzahl von Entscheidungen erläuterte VorsRiKG Dr. Müther den Teilnehmern ausführlich und lebensnah die Senatsrechtsprechung zu einzelnen Verkehrsverstößen sowie Einzelfragen zum Sach- und Personenschadensrecht und gab zu strittigen Verfahrensfragen wertvolle Hinweise.

Maximilian Gutmacher | Rechtsanwalt | www.ra-gutmacher.de | www.autorechtler.de

FAHRGASTUNFALL IM ÖPNV

Zunächst hatte das KG einen Fahrgastunfall zu entscheiden, bei dem ein älterer behinderter Fahrgast beim Anfahrvorgang des Busses stürzte. Hier gäbe es keinen Erfahrungssatz, dass diese nicht in der Lage seien, sich sicher genug abzustützen. Zugleich gelte bei einem Sturz im ÖPNV der Anscheinsbeweis dafür, dass sich der Fahrgast nicht richtig festgehalten habe. Dem Fahrgast obliege es im Zweifel, den Busfahrer beim Einstieg darauf anzusprechen und um ein Zuwarten vor dem Anfahren zu bitten (Hinweisbeschluss vom 17.11.2022, 22 U 1/22).

UNFALLREKONSTRUKTIONSGUTACHTEN BEI FAHRSTREIFENWECHSEL

Eine weitere Entscheidung betraf die Frage, wann einem Beweisangebot nachzukommen sei. Das angebotene Beweismittel sei ungeeignet, wenn es im Einzelfall völlig ausgeschlossen erscheint, dass es zum Beweisthema sachdienliche Ergebnisse erbringen kann. So kommt ein Unfallrekonstruktionsgutachten bei einem Unfall wegen eines Fahrstreifenwechsels nach den Erfahrungen der Verkehrssenate des KG nur dann in Betracht, wenn als Anknüpfungstatsache zumindest die Position eines der beteiligten Fahrzeuge auf der Fahrbahn zum Unfallzeitpunkt feststehe (Urteil vom 15.05.2023, 25 U 21/22, n.v.).

KEINE HAFTUNG AUS DER BETRIEBSGEFAHR

Durchaus praxisrelevant erschien eine weitere referierte Entscheidung des Senats, die sich in die Reihe der Parkplatzunfall- Entscheidungen anderer Gerichte einordnet. So stellte der Referent klar, dass auch auf einem Parkplatz nicht erwartet werden muss, dass ohne jede Vorankündigung und ohne vorsichtiges Vortasten ausgefahren wird. Hier trete hinter dem feststehenden, nicht nur leichten Verschulden des Ausfahrenden die Haftung des Klägers aus der Betriebsgefahr im Rahmen der Abwägung der Mitverursachungs- und Mitverschuldensanteile nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB vollständig zurück (Urteil vom 11.05.2023, 22 U 85/22).

NEUER LEASINGVERTRAG ZUR ERSATZBESCHAFFUNG NACH TOTALSCHADEN?

Der Abschluss eines neuen Leasingvertrages stellt keine Ersatzbeschaffung dar

Zur Frage der Berücksichtigung von Umsatzsteueranteilen auf den Wiederbeschaffungswert verwies der VorsRiKG Dr. Müther auf einen Senatsbeschluss: Der Abschluss eines neuen Leasingvertrages stellt keine Ersatzbeschaffung dar (Beschluss vom 06.07.2023, 22 U 88/22).

NOTWENDIGER VORTRAG BEI VORSCHÄDEN

Ebenso aufschlussreich wie aktuell war eine BGH-Entscheidung in einem Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu einem die Berufung zurückweisenden Beschluss des KG. Streitig waren die Anforderungen zur Abgrenzung eines neu eingetretenen Schadens von einem unreparierten Vorschaden. Hier sah der BGH keinen unzulässigen Ausforschungsbeweis darin, durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen im Prozess ergänzend aufklären zu lassen, in welcher geringeren als ursprünglich geltend gemachten Höhe Reparaturkosten anfallen. Der Kläger sei in diesem Fall nicht gehalten, zunächst weiteren Vortrag zur Schadenshöhe zu halten. So erleichtere § 278 ZPO dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Darlegung (BGH, Beschluss vom 06.06.2023, VI ZR 197/21).

PKH FÜR „ÜBERHÖHTE“ SCHMERZENSGELDFORDERUNGEN

Der Senat hatte in einer Beschwerdesache über Prozesskostenhilfe zu entscheiden und bewilligte diese. Angesichts der bloß summarischen Prüfung ist es regelmäßig angemessen, Prozesskostenhilfe auch für eine überhöhte Schmerzensgeldforderung zu bewilligen, wenn sich diese in einem vertretbaren Rahmen bis hin zum doppelten des vom Gericht für angemessen erachteten Betrages bewegt. Die endgültige Festlegung kann in der Regel erst im Hauptsacheverfahren erfolgen (Beschluss vom 13.07.2023, 22 W 18/23).

PROZESSFÜHRUNGSBEFUGNIS ALS ZULÄSSIGKEITSVORAUSSETZUNG

Zwei weitere referierte Entscheidungen bezogen sich schließlich auf prozessrechtliche Fragen der Zulässigkeit einer Klage. So sei zu beachten, dass Schadensersatzansprüche wegen Beeinträchtigung des Eigentums nicht mit der Übertragung des Eigentums an dem Fahrzeug auf den neuen Eigentümer übergehen, sondern bei dem zum Zeitpunkt des Unfalls Geschädigten verbleiben. Dies gelte auch im Falle des Sicherungseigentums (Beschluss vom 30.03.2023, 22 U 48/22). Auch hält der Senat an seiner Auffassung fest, dass die Ermächtigung zur Prozessführung hinreichend deutlich erteilt sein muss – eine Einziehungsermächtigung oder auch eine vorab in allgemeinen Geschäftsbedingungen erteilte Generalermächtigung reiche nicht aus. Denn die Ermächtigung als Prozesshandlung muss sich auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis (also hier den Rechtsstreit für den konkreten Unfallschaden) beziehen (Beschluss vom 23.11.2022, 22 U 29/22). Angesichts des regen Zuspruchs bleibt auch weiterhin zu hoffen, dass diese gemeinsame Veranstaltungsreihe der Berliner Richter- und Anwaltschaft ihre Fortführung findet.

Exklusiv für Mitglieder | Heft 12/2023 | 72. Jahrgang